Mein Schwiegervater hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Er war ein heller Kopf. Aus einfachen Verhältnissen heraus hat er es im Leben weit gebracht.
Hochzeitsfoto meiner Schwiegereltern 1935 (Fotograf unbekannt)
Mein Schwiegervater 1970 in Badenweiler (Fotograf unbekannt)
Das Grab meiner Schwiegereltern auf dem Friedhof Heidelberg-Handschuhsheim (Foto: Gerlinde Reichert)
Gegen alle Männer, die meine Frau vor mir kennengelernt hatte, hatte ihr Vater etwas einzuwenden. Da war es für uns beide eine angenehme Überraschung, mit welch offenen Armen er mich vom ersten Moment an aufgenommen und welches Vertrauen er mir entgegengebracht hat. Das war umso erstaunlicher, als meine Frau und ich unterschiedlichen Konfessionen angehörten, eine Konstellation, vor der er sie aufgrund eigener schlechter Erfahrungen als Kind immer wieder gewarnt hatte. Wir haben oft bis tief in die Nacht im Wohnzimmer zusammen gesessen, die Frauen waren schon längst im Bett, eine gute Flasche Wein getrunken und über "Sonne, Mond und Sterne" diskutiert.
Mein Schwiegervater war ein heller Kopf, mit dem es Spaß machte zu diskutieren. So hatte er bereits zu einer Zeit, als Helmut Kohl in der rheinland-pfälzischen CDU Karriere machte, prophezeit, dass dieser mal unser Bundeskanzler werde. Ich mochte meinen Schwiegervater nicht nur, sondern schätzte auch ihn und seine Lebensleistung sehr. Er hatte es aus einfachen Familienverhältnissen heraus im Leben weit gebracht, sich nie mit dem Üblichen zufrieden gegeben.
Neben der Ausübung seines Berufs als Dentist, teilweise auch während der Teilnahme am 2. Weltkrieg, hat er sein Ziel vorangetrieben, Zahnmedizin zu studieren und später dann bei dem berühmten Krebsforscher Prof. Dr. Hans Lettré, Leiter des Instituts für experimentelle Krebsforschung der Universität Heidelberg, zu promovieren. Aus diesem Institut entstand später das Institut für Zell- und Tumorbiologie des Deutschen Krebsforschungszentrums. Seine Dissertation beschäftigte sich mit pathologischen Veränderungen an der Pulpa des Zahnes, hervorgerufen durch Arsen, wie es in der Zahnheilkunde zur Devitalisation von Zähnen verwendet wird. Mangels Abitur musste er für seine Studienzulassung eine Begabtenprüfung ablegen und das "kleine Latinum" nachholen. Es gab nur ganz wenige Dentisten, die das nach Abschaffung des Berufsbildes "Dentist" geschafft haben. Er hat auch stets viel für seine Fortbildung getan, Artikel in Fachzeitschriften geschrieben und seine Fähigkeiten um Kieferchirurgie erweitert, was heutzutage nur doppelt approbierten Fachärzten vorbehalten ist (Human- und Zahnmedizin).
Er hatte viele Jahre eine gut gehende Praxis in der Heidelberger Hauptstraße, war bei Patienten, Kollegen und Klinikprofessoren beliebt und geschätzt. Entsprechend groß war auch der Teilnehmerkreis bei seiner Beerdigung und das viele Jahre nach Ende seiner aktiven Zeit. Seine Frau war der gute Geist der Praxis, hat ihm abwechselnd mit Helferinnen am Stuhl assistiert, sich um das Wohlbefinden der Patienten gekümmert, aber auch darum, dass "die Kasse stimmt".
Er gab sich auch als Soldat nicht mit den unteren Dienstgraden zufrieden, sondern wollte Offizier werden. Auch das war ohne Abitur schwierig. Noch vor der Begabtenprüfung hat er auch das geschafft und es in wenigen Jahren bis zum Hauptmann gebracht.
Mit seinem Tode verlor meine Frau ihr erstes und ich mein zweites Elternhaus. Wir wussten beide bei Erhalt der Todesnachricht, dass jetzt nichts mehr so sein wird wie es war. Und so kam es denn auch.